Am Vormittag spielen einige Kinder der Gruppe vor dem großen Spiegel in der „Bauecke“. Luise hält in seinem Spiel inne und schaut sich den Spiegel genauer an. Nach einer Weile krabbelt sie auf den Spiegel zu und versucht mit dem Kind im Spiegel Kontakt aufzunehmen.
Eigentlich sieht das Mädchen dort aus wie ein Kind aus der Gruppe, aber sie hat sie hier noch nie gesehen. Luise versucht Augenkontakt aufzunehmen und das Mädchen im Spiegel mit der Hand zu berühren. Sie scheint sich zu fragen „Wer bist du?“ Diese Frage bleibt an diesem Tag jedoch für Luise unbeantwortet.
In vielen Einrichtungen in denen Kinder unter drei Jahren betreut werden, gehören Spiegel zur Standardeinrichtung. Spiegel sehen nicht nur schön aus und vergrößern den Raum optisch, sie erfüllen auch eine wichtige pädagogische Aufgabe.
Sich selbst entdecken
Die meisten Kinder erkennen sich selbst visuell so um den 18. Lebensmonat. In der Autonomiephase entdecken die Kinder, dass sie getrennt von ihrer Bezugsperson existieren, und dass durch die Interaktion mit der Umwelt selbst wirksam Effekte erzielen können. Sie fühlen sich auch schon durch bestimmte Kategorien wie „Junge“ oder „Kind“ angesprochen. Das Selbstbewusstsein entsteht und damit die Grundlage zur Entwicklung von Empathie. „Nur Kinder, die sich bereits im Spiegel erkennen, zeigen auch empathisches Verhalten [Bischof-Köhler, 1989 aus Babyjahre R. H. Largo, 2014, S.126].
Rouge auf der Nase
Mit dem Klassiker aus der entwicklungspsychologischen Forschung, dem so genannten Rouge-Experiment kann nachgewiesen werden, wann sich ein Kind selbst im Spiegel erkennt. Zunächst können sich die Kinder im Spiegel anschauen. Danach werden sie unauffällig mit etwas Rouge auf der Nase betupft. Wenn sich die Kinder jetzt im Spiegel betrachten, schauen sie etwas verwundert, verziehen das Gesicht und versuchen die Farbe weg zu reiben. Es ist deutlich zu beobachten, dass die Kinder ihr Spiegelbild mit ihrer eigenen Person in Verbindung bringen. Kinder die jünger als 15 Monate sind, zeigen keine Reaktion. [Vgl. Bertelsmann Stiftung, 2011, S. 9]
Bin ich das?
Erfahren heißt noch nicht verstanden. Jetzt experimentieren die Kinder zunächst einmal mit dieser neuen Entdeckung. Einige werden auffällig aktiver vor dem Spiegel und probieren ihre Mimik, Gestik und Bewegungen aus. Andere wirken fast schüchtern, lächeln vorsichtig und schauen sogar weg. Mit dem sich visuellen selbst erkennen im Spiegel wird auch die eigene Person sprachlich benannt. Zunächst wird noch in der dritten Person durch das Nennen des eigenen Namens gesprochen. Aber bald bekommt das Wort „ich“ eine zunehmende Bedeutung und wird häufig angewandt. Und natürlich ich alles was mir gehört „meins“ und wird, wenn nötig, vehement erstritten.
Somit wird das Spiel mit anderen Kindern intensiver, aber auch konfliktreicher. Die Kinder in diesem Alter versuchen ihre Emotionen zu beschreiben. Äußerung die sie jetzt besonders gerne verwenden sind „ich will“, „nein“ und „doch“.
Sich wider „spiegeln“
In diesem Prozess schreiben Kinder sich nun auch bestimmte Eigenschaften zu. Ihr Selbstbild ist jedoch noch nicht so sicher und braucht Bestätigung von ihren Bezugspersonen. „Die Entwicklung der Selbstwahrnehmung und damit das Erleben des eigenen Willens bringt das Kind emotional in einen Zwiespalt. Einerseits möchte es sich die uneingeschränkte Zuwendung seiner Eltern bewahren, andererseits will es seinen eigenen Willen bei den Eltern durchsetzen. Es will Nein sagen können, ohne abgelehnt zu werden.“ [Tandem kindergarten heute, Hilfe, mein Kind trotzt!, Herder Verlag 08/2009].
In dieser Zeit nehmen die Kinder am sozialen Miteinander teil, in dem die geltenden Normen und Werte durch ihr Verhalten „erfragen“ und ausprobieren. Das „Spiegeln“ hat hier eine große Bedeutung. Es geht nicht nur darum sich selber im Spiegel zu erkennen, sondern vielmehr darum, die Reaktionen der Menschen in ihrem Umfeld ge- „spiegelt“ zu bekommen. Sie erforschen ob ihre Äußerungen und Gefühle verstanden werden und ob sie als angemessen empfunden werden. Aus diesen „Forschungsergebnissen“ entwickeln sich später Scham und Stolz für das eigene Verhalten. „Zweijährige spielen und beobachten, um sich besser in der Welt zurechtzufinden. Dafür brauchen sie aber auch differenzierte Rückmeldungen dieser „Welt“, die sie auf verschiedensten Wegen abfragen. Denn in diesem Alter beginnt ein Kind, seine Erfahrungsschatzkiste spielerisch zu füllen.“ [kindergarten heute spezial, Vom Säugling zum Schulkind- Entwicklungspsychologische Grundlagen, Herder Verlag, 2008, S.26]
Spieglein, Spieglein…
Spiegel lassen Räume größer wirken und schaffen Tiefe im Raum. Sie sind ein ästhetisches Gestaltungselement ist vielen Räumen. In den Räumen für Kinder unter drei Jahren unterstützen Spiegel die Selbsterkennungsprozesse der Kinder. Wenn wir die Kinder dabei beobachten wie sie sich vor einem Spiegel verhalten, sich bewegen und immer wieder ihr Spiegelbild überprüfen, wird dies sehr deutlich. Hier haben die Kinder die Möglichkeit ihren Körper, ihre Mimik und Gestik und damit auch ihr „ich“ zu erforschen und besser kennenzulernen. Darüber hinaus bieten sich mit Spiegeln im Raum unendliche Möglichkeiten zum Experimentieren und Erforschen von Naturphänomenen. Mit Spiegeln kann ich die Ecke kucken, Dinge aus einer anderen Perspektive sehen, mit meinem Abstand zum Spiegel experimentieren und faszinierende Lichteffekte beobachten. Außerdem eignen sich Spiegel hervorragend für sinnliche Erfahrungen mit flüssigen Farben, Rasierschaum o.ä..
Trotzdem ist es wichtig kein „Spiegelkabinett“ aus den Gruppenräumen der Kinder zu machen. Gerade junge Kinder, besonders unter 18 Monaten, können durch zu viele Spiegel, Fußbodenspiegel oder Spiegel die Über- Eck angebracht sind verwirrt oder verängstigt reagieren.
Achtet in jedem Fall darauf, dass die Spiegel die sich in den Räumen der Kinder befinden bruchsicher sind. Wo keine bruchsicheren Spiegel angebracht werden können, eignet sich z.B. Spiegelfolie.
Platziert die Spiegel auf Augenhöhe der Kinder. Großflächige Spiegel bieten den Kindern die Möglichkeit sich im Ganzen zu betrachten. Befestigt diese Spiegel bodentief, so dass auch Krabbelkinder sich betrachten können. Für „Laufanfänger“ bieten sich „Ballettstangen“ an. Die Kinder können sich an den Stangen festhalten und sich betrachten.
Achtet darauf, dass die Kinder vor den Spiegeln ausreichend Platz haben, um sich zu bewegen. Platziert sie vor den bodentiefen Spiegeln Teppiche oder Matten.
Über- Eck- Spiegel und Spiegelpodeste bieten unendliche Perspektiven. Spiegel auch mal an ungewöhnlichen Stellen wie in Regalen, an der Unterseite von Tischen oder Spiegelfliesen am Boden lassen Kinder neue Perspektiven entdecken.
Mit „mobilen“ Spiegel können die Kinder ihre Räume selbstständig gestalten.
Kinder lieben es sich zu verkleiden und in andere Rollen zu schlüpfen. Bringt Spiegel, in denen sich die Kinder von „Kopf bis Fuß“ bestaunen können, in den Rollenspielbereichen der Kinder.
Wenn sie „Fühl- oder Entdeckerwände“ für die Kinder gestalten, verstecken sie auch kleine Spiegelfliesen o.ä. zwischen den Materialien. Erweitert das Spielmaterial der Kinder mit Spiegelelementen wie zum Beispiel Spiegelplatten- und Würfel. So können die Kinder verschiedene Spielgegenstände miteinander kombinieren und mit Spiegelphänomenen experimentieren.
Auch im Atelier eignen sich Spiegel zum Bemalen und Abklatschtechniken mit dickflüssigen Farben, Kleister oder Rasierschaum. Spiegelplättchen vor den Fenster aufgehängt ergeben schöne Licht- und Spiegeleffekte.
Spiegel in Bädern auch immer so aufhängen, dass sich die Kinder gut sehen und beim Waschen, Zähneputzen und Wasserspielen beobachten können. Natürlich bieten Spiegel auch schöne Möglichkeiten um mit Seifenschaum o.ä. Erfahrungen zu sammeln und Spuren zu hinterlassen.
Quellen und Literatur:
Artikel zuerst vgl. erschienen in der Zeitschrift klein & groß 12,2017
Babyjahre R. H. Largo, Piper Verlag, 2014
Wach, neugierig, klug- Kompetente Erwachsene für Kinder unter 3, Bertelsmann Stiftung, 2011
Tandem kindergarten heute, Hilfe, mein Kind trotzt!, Herder Verlag 08/2009
kindergarten heute spezial, Vom Säugling zum Schulkind- Entwicklungspsychologische Grundlagen, Herder Verlag, 2008
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